Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben…


Wie verheissungsvoll diese Zeilen von Hermann Hesse aus dem Gedicht „Stufen“ klingen! Sie berühren und inspirieren mich zugleich, den Beginn eines neuen Erdenlebens etwas auszuleuchten.

Nach der Geburt erwartet die Eltern die grosse Herausforderung, ihrem neugeborenen Kind zu geben, was es braucht, um sich in dieser Welt entspannt, aufgehoben und sicher zu fühlen. Manche machen sich viele Gedanken, wie: Kann ich das? Werde ich dieser Aufgabe gewachsen sein? Andere haben genaue Vorstellungen darüber, wie sie ihr Kind erziehen werden. Viele freuen sich und erwarten gespannt diesen grossen Augenblick, wenn sie ihr Kind zum ersten Mal sehen und auf dieser Welt begrüssen dürfen!

Doch welche natürlichen Bedürfnisse hat ein neugeborener Mensch? Worauf sind wir wirklich grundlegend angewiesen? Was brauchen Kinder, um zu zufriedenen, selbstbewussten Menschen heranzuwachsen und ihre natürlichen Gaben und Talente frei entfalten zu können?

Babys sind auf Feinfühligkeit angewiesen

Säuglinge haben noch keine Möglichkeit, sich klar und deutlich auszudrücken. Um ihre Bedürfnisse und Signale verstehen zu lernen, braucht es die Feinfühligkeit der primären Bindungs- oder Bezugsperson. Feinfühligkeit bedeutet, sich in ein Wesen einzufühlen, seine feinen Signale wahrzunehmen, zu deuten und darauf zu reagieren. Dies setzt voraus, dass ich mich beispielsweise als Mutter sicher und verbunden mit mir selbst und dem Leben fühle. Nur so kann ich auch für mein Kind oder andere Menschen offen und feinfühlig da sein.

Glück und Verzweiflung

Doch was, wenn alles anders ist als du es dir vorgestellt hast? Wenn die erwarteten Gefühle der Freude und des Glücks ausbleiben und du stattdessen eine dir fremde, innere Leere empfindest? Oder wenn dich die Situation überfordert und du plötzlich grosse Zweifel hast?

Ich kenne keinen Lebensbereich, in dem Glück und Verzweiflung so nahe beieinander liegen wie in der ersten Zeit mit einem Kind! Nichts geht mir persönlich so nahe, wie ein untröstlich weinendes Baby! Ich weiss aus meiner Arbeit , dass es vielen Müttern so geht! Dieser unsägliche Stress, in den sie kommen, wenn sich ihr Kind nicht beruhigen lässt und sie keine Ahnung haben, was ihm fehlen könnte!

Möglicherweise kennst du auch diese Erschöpfung, weil du keine Ruhe, zu wenig Schlaf und Zeit für dich selbst findest! Oder vielleicht hast du eine überwältigende Geburtserfahrung überstanden und jetzt heisst es: «Hauptsache gesund!» Doch in Wahrheit fühlst du dich unverstanden, allein und verletzt!

Die meisten Frauen erzählen mir, sie würden irgendwie nur noch funktionieren und wünschten sich ihr altes Leben zurück! Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass sie sich in einem Überlebensmodus befinden. Das bedeutet, ihr Nervensystem ist hoch aktiviert, um die Energie zu mobilisieren, die es braucht, diese Herausforderung zu überwinden.

Du kannst es dir bildlich so vorstellen: In deinem Körper gibt es eine Wächterin, deren Aufgabe es ist, für deine Sicherheit zu sorgen. Ohne dass du es wahrnimmst, beobachtet sie wachsam, ob etwas Bedrohliches geschieht. Angst- und Stresssituationen werden als Bedrohung gedeutet. Erst wenn das Ereignis bewältigt und zu einem positiven Ausgang geführt wird, kann die Wächterin das System wieder herunterfahren. Wir sprechen dann von Selbstregulation. Jetzt kannst du wieder Sicherheit und Ruhe empfinden. Dann stellt sich Geborgenheit ein und damit Verbundenheit mit dir selbst und andern Menschen.

Wenn wir jedoch ein unverarbeitetes Trauma in uns tragen, ist in unserem Unterbewusstsein die Erfahrung gespeichert, dass die eigene Kraft und die eigenen Fähigkeiten nicht ausreichen, um für Sicherheit zu sorgen. In diesem Fall wird deine Wächterin das hohe Spannungs-und Energieniveau aufrechterhalten, weil sie wie ein Bodyguard immer und überall davon ausgeht, dass etwas Überwältigendes stattfinden kann. Sie passt auf, damit das nicht wieder passiert und bleibt wachsam. Erst, wenn die traumatische Erfahrung erkannt und verstanden wird, kann sich dein Bodyguard erlauben, seine Antennen zurück zu nehmen. Dann kann sich diese gehaltene, blockierte Energie aus dem Körper lösen und das Nervensystem sich wieder regulieren.

Wie du deinem Nervensystem vermitteln kannst, dass die Gefahr vorbei ist

Wenn eine tiefe Erfahrungen einer Verletzung oder emotionalen Wunde dich verstört haben, braucht es Unterstützung von aussen. Es braucht einen Menschen, der mit Mitgefühl und Achtsamkeit dich an der Hand nimmt, bis du aus dem Gefühl der Verlorenheit herauskommst. Es braucht jemanden, dessen Nervensystem Ruhe und Sicherheit vermittelt, wie das helle Licht des Leuchtturms dem Schiff den Weg weist. Erst wenn du wieder in sicherem Gewässer bist, kann dein Nervensystem sich regulieren und zur Ruhe kommen. Das nennen wir Co-Regulation. In der Sprache der Biologie ausgedrückt bedeutet das: Ein Nervensystem, das ständig hoch alarmiert ist und sich nicht selber herunter regulieren kann, braucht ein externes und reguliertes Nervensystem, dem es «folgen» kann. Wie du sicher schon erlebt hast, ist Stress ansteckend. Die gute Nachricht ist: Ruhe auch!

Kinder brauchen Co-Regulation

Ein Baby kann sich nicht selber beruhigen! Es kann sich auch nicht aus einer bedrohlichen Situation wegbewegen. Ein Kind, das allein gelassen wird, weil die Eltern es vielleicht daran gewöhnen wollen, auch alleine schlafen zu können, oder wenn es hungrig auf seine Mahlzeit warten muss, weil es noch zu früh ist, schon wieder zu trinken, wird sich verloren und ohnmächtig fühlen. Sein Nervensystem gerät in eine hohe Übererregung, und wenn diese Situation zu lange dauert, kommt es zu einem „Shutdown“, damit die Not ein Ende hat. Das heisst, sein Nervensystem schaltet ab, der Körper fällt in eine Untererregung, was einem Totstellen oder einem Kollaps gleichkommt. In diesem Zustand erlebt ein Kind tiefe Verlassenheit und ein Abgeschnitten sein von der Welt. Diese Erfahrungen prägen sich tief in das Körpergedächtnis ein. Kein Kind kann aus diesem Zustand der Über- oder der Untererregung ohne die Co-Regulation eines andern Menschen herauskommen! Es braucht die tröstende, haltgebende Zuwendung seiner Eltern oder seiner engsten Bindungspersonen, die ihm vermitteln: Hier bist du sicher! Du bist wertvoll und wichtig. Du wirst nicht allein gelassen! Du darfst dich mir zumuten!

Du darfst Hilfe in Anspruch nehmen

Was, wenn du dich gerade unsicher fühlst? Wenn du überfordert bist und das Weinen deines Kindes nicht aushältst? Wenn dein Nervensystem auf Hochtouren läuft und Stresshormone freisetzt? Oder du den Zugang zu deinen Gefühlen verloren hast und du keine Ahnung hast warum? Dann kannst Du kein Leuchtturm sein, der stabil und fest verankert ist und mit seinem Licht dem orientierungslosen Schiff im Sturm die Richtung weist. Es ist dann eher so, dass du im selben Boot sitzt wie dein Kind und es immer stürmischer wird.

Diese Informationen sollen keineswegs Druck und schlechtes Gewissen erzeugen! Mein Herzensanliegen ist es, Klarheit darüber zu schaffen, wie wichtig es ist, dich zuerst um dich selber zu kümmern und Hilfe in Anspruch zu nehmen!

Es ist wie im Flugzeug, wo die Anweisung gilt, erst sich selbst die Sauerstoffmaske aufzusetzen, dann dem Kind oder dem Nachbarn. Wie willst du sonst jemandem helfen, wenn du keine Luft mehr hast?

Es liegt in unserer Natur, einander zu brauchen und uns zugehörig zu fühlen. Angewiesen sein auf andere Menschen ist kein Ausdruck von Schwäche, sondern einer der schönsten Aspekte unserer Natur. Wir sehnen uns alle nach Nähe, Halt, Schutz und Geborgenheit. Das sind tiefe, menschliche Bindungsbedürfnisse. Wir wollen nicht allein sein und es ist für unsere Gesundheit so wichtig, diese Bedürfnisse ernst zu nehmen und uns um sie zu kümmern. Sichere Bindung ist der Schlüssel für ein Leben in Frieden und Glück.

Deshalb ist es nie zu spät, auch mit schweren Startbedingungen ein gutes Leben zu gestalten!